Die Kunst, einen Kaktus zu umarmen

Was Jugendliche in der Pubertät brauchen: Loslassen ohne fallen gelassen zu werdenWas Jugendliche in der Pubertät brauchen: Loslassen ohne fallen gelassen zu werden

Knallende Türen, provokatives Verhalten, zugemüllte, miefige Zimmer, beleidigte Mienen, hitzige Ich-hab-Recht-Diskussionen, Liebeskummer-Arien, Null-Bock-auf-gar-nichts und schlappe Rumhänger auf dem Sofa – kennen Sie das? Dann ist Ihr kleiner einst so süßer Sonnenschein gar nicht mehr so klein und süß, sondern in der Pubertät angekommen. Dieser Lebensabschnitt sorgt in den meisten Familien regelmäßig für Streitereien mit Wut, Tränen, Verzweiflung und blanken Nerven bei allen Beteiligten. Aus Sicht der Eltern ist es die wohl anstrengendste Zeit des Eltern-Seins. Wer Haushalt, Job und pubertierende Kinder unter einen Hut bekommen muss, hat einen Fulltimejob, der enorm viel Kaft erfordert und nicht Wenige an ihre Grenzen bringt.

Es ist die Zeit, in der ein Jugendlicher vom Kind zum Erwachsenen wird. Die Pubertät kann sich im Alter von 10 bis 18 Jahren abspielen, je nach individuellen Faktoren. In dieser Zeit findet die Entwicklung des Jugendlichen auf drei Ebenen und in unterschiedlichen Phasen statt: auf der körperlichen Ebene (Geschlechtsreife, Menstruation, Behaarung usw.), der sozialen Ebene (Geheimnisse, Cliquen, Distanz zu den Eltern usw.) und der psychischen Ebene (Identitätsfindung, Selbstzweifel usw.). Ein Jugendlicher hat in dieser Zeit eine Reihe von Aufgaben zu bewältigen, die für die meisten Teenies eine Überforderung darstellen. Sie schwanken hin und her zwischen dem noch-Kind-sein und dem schon-groß-sein-wollen. Sie müssen ihre eigenen Werte entwickeln und definieren, eine Meinung und ein Standing entwickeln, die manchmal unschönen und beängstigenden Veränderungen des eigenen Körpers akzeptieren, eine eigene Identität und ein Ich-Gefühl entwickeln, die Eltern loslassen und die eigene Sexualität entdecken. Sie müssen neue Rollen in Freundschaften und sozialen Gefügen ausprobieren, Abgrenzung und Durchsetzungsfähigkeit lernen und mit den Gleichaltrigen mithalten, um anerkannt zu werden. Können Sie sich noch an Ihre eigene Pubertät erinnern? Waren Sie mit diesen vielen Aufgaben nicht auch überfordert? Wenn dann noch die Hormone verrückt spielen, dann steht die eigene Welt Kopf und die Auseinandersetzungen mit Eltern, Geschwistern und Freunden sind vorprogrammiert. Aber keine Sorge, liebe Eltern, diese Phase geht auch vorbei. In den folgenden Zeilen ist zusammen gefasst, was sich für Eltern in dieser schweren Entwicklungsphase als hilfreich erwiesen hat, um die Konflikte zu reduzieren, das Aggressionspotential zu senken und die Jugendlichen durch ihre stürmische Zeit zu begleiten.

Ein pubertierender Jugendlicher hat drei Grundbedürfnisse: Sicherheit/Geborgenheit, Akzeptanz/Wertschätzung und Selbstbestimmung. Keine Eltern dieser Welt werden es schaffen, diese drei Grundbedürfnisse ihres Kindes zu jeder Zeit adäquat zu erfüllen, zumal der Jugendliche oft selbst nicht weiß, wann welches Bedürfnis gerade vorherrscht. Also machen Sie sich keinen Druck, Sie werden nicht alles richtig machen, aber einiges lässt sich verändern, damit es leichter wird:

  1. Bereiten Sie sich gut auf die Pubertät Ihres Kindes vor und lesen Sie mindestens ein gutes Buch zum diesem Thema.

  2. Bereiten Sie Ihr Kind gut auf die Pubertät vor. Erklären Sie ihm, was alles in den nächsten Jahren passieren wird/kann und wie sich auch Ihre Beziehung zueinander verändern könnte. Am besten fangen Sie mit dieser Art „Aufklärung“ an, wenn es den ersten großen Krach gegeben hat oder Ihr Kind sich zurückzieht.

  3. Sprechen Sie eher in Ich-Botschaften, statt in der Vorwurfs-Sprache. Statt „Du bist immer unpünktlich, du bist einfach zu unzuverlässig!“ können Sie beispielsweise sagen: „Mich macht dein Verhalten unsicher und ich werde unruhig, wenn ich merke, du kommst nicht. Hast du eine Idee, wie ich weiterhin sicher sein kann, dass ich mich auf dich verlassen kann? Woran könnte ich merken, dass ich dir immer mehr zutrauen und dir vertrauen kann?“

  4. Benennen Sie immer Ihre Gefühle und fragen Sie auch ihr Kind danach. Lassen Sie diese stehen, egal, wie fremd sie ihnen vorkommen mögen. Über Gefühle lässt sich nicht streiten! Und das gegenseitige Austauschen darüber schafft Kontakt und Verbindung.

  5. Verzichten Sie bitte komplett auf Ironie, Sarkasmus, lächerlich machen, Bloßstellungen und Abwertungen. Sie sind Gift in jeder Kommunikation und pubertierende Jugendliche sind außerordentlich empfindlich. Sagen Sie, was Sie meinen und meinen Sie, was Sie sagen. Verzichten Sie ebenso auf Übertreibungen und Verallgemeinerungen. Wörter wie „immer“ und „nie“ lassen dem Gegenüber keine Chance.

  6. Wenn Sie übers Ziel hinaus geschossen sind, entschuldigen Sie sich bei Ihrem Kind. Auch, wenn es das selbst noch nicht kann. Das wird es lernen, wenn Sie es ihm vorleben. Sich entschuldigen ist kein Zeichen von Schwäche oder eine Niederlage, im Gegenteil: Es ist ein Zeichen von innerer Stärke und gegenseitigem Respekt.

  7. Wühlen Sie in Gesprächen nicht in der Vergangenheit und beziehen Sie sich bei jedem Konflikt und Streitgespräch immer nur auf das gegenwärtige Thema, holen Sie nicht immer wieder die alten Vorwürfe hoch. Das Ziel eines Gespräches sind zukunftsorientierte Lösungen! Was könnte jetzt in dieser Situation helfen? Was wäre eine gute Lösung? Was könnte jeder von beiden dazu beitragen, dass die Situation gut geklärt wird?

  8. Ermöglichen Sie Ihrem Kind, ohne Gesichtsverlust Grenzüberschreitungen und Regelverstöße zu begehen und wieder zu korrigieren. Dazu gehört auch, Ihr Kind auch mal „gewinnen“ zu lassen. Dies fördert sein Selbstvertrauen und sein Selbstwirksamkeitsgefühl.

  9. Selbstvertrauen entsteht durch Zutrauen, trauen Sie Ihrem Kind immer mehr zu, fördern und fordern Sie es, sich neuen Herausforderungen zu stellen, eigene Entscheidungen zu treffen und die Konsequenzen aus dem eigenen Handeln zu tragen. Lassen Sie Ihr Kind auch Fehler machen, auch wenn es furchtbar schwer ist, dabei zu zusehen. In der Pubertät sind Jugendliche noch nicht so vertrauenswürdig wie wir Erwachsenen uns das wünschen würden. Setzen Sie also die Messlatte nicht zu hoch. Regelverstöße und Vertrauensbrüche gehören dazu.

  10. Aber: Lassen Sie sich nicht auf der Nase herum tanzen. Wer es gut meint und seinem Kind alle Freiheiten lässt und Konfrontationen aus dem Weg geht, lässt sein Kind ins Leere laufen. In diesem Fall fehlt für jeden Heranwachsenden die Möglichkeit, sich zu reiben, an die Grenzen zu gehen und den Aufstand zu proben. Wer Regeln aufstellt, muss sie auch einhalten. Konsequenz signalisiert auch Verlässlichkeit. Sie merken: Es ist ein Eiertanz!

  11. Versuchen Sie, das Verhalten Ihres Kindes nicht persönlich zu nehmen. Ein Kind reibt sich hauptsächlich an den sicheren Bindungspersonen. Sie sind in dieser Zeit die Fußmatte, das ist natürlich kein schönes Gefühl.

  12. Denken Sie daran, dass die Grundlagen für Ihre Beziehung vor der Pubertät gelegt werden.

  13. Üben Sie loslassen! Sie sind mit dem Erwachsenwerden ihres Kindes weniger als Eltern gefragt und es entsteht neuer Raum für die eigenen Bedürfnisse. Nutzen Sie die Pubertät Ihres Kindes, um sich wieder mehr sich selbst und Ihrem Partner zuzuwenden. Damit verhindern Sie das Gefühl von Leere, mit dem manche Eltern konfrontiert sind, sobald ihr Kind ausgezogen ist.

  14. Versuchen Sie immer hinter das Verhalten Ihres Kindes zu schauen. Welches Problem/Bedürfnis steckt dahinter? So drückt ein Mädchen mit ihrem übertriebenen Schlankheitswahn vielleicht ein sehr instabiles Selbstwertgefühl und Scham aus. Ein zickiges, pöbelndes und provokantes Verhalten überspielt dagegen eigene Unsicherheiten und schafft eine Selbstaufwertung! Ein Junge versucht mit seinem Macho-Gehabe dagegen, seine verwirrenden Gefühle zu kontrollieren und verhindert das Gefühl von Schwäche sowie die Angst vor Ablehnung. Jedes Verhalten, mag es für uns noch so merkwürdig sein, macht in der inneren Welt unserer Kinder Sinn und erfüllt eine wichtige Funktion. Es hilft gleichermaßen Eltern wie Kindern, diesen Sinn und das dahinter liegende Bedürfnis zu verstehen.

  15. Und nun zum Schluss die Goldene Regel, sie können Sie in jeder Beziehung verwenden. Wir Westeuropäer neigen dazu, auf das Defizit zu schauen, auf das halbleere Glas. Üben Sie, auf das Gute zu schauen. Benennen Sie mehr die Stärken Ihres Kindes als seine Schwächen. Stärkenorientierte Erziehung ist, wie tausende Studien bewiesen haben, um so vieles effektiver als die Defizitorientierte Pädagogik, mit denen unsere Eltern- und Großelterngeneration aufgewachsen ist! Loben Sie es nicht nur für Leistungen oder für sein Handeln, sondern viel mehr für seine positiven Eigenschaften (Kreativität, Offenheit, Freundlichkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Lebendigkeit, Engagement in Freundschaften, starken Willen, Kritisches Hinterfragen, politisches Interesse, Loyalität usw.) Sie werden etwas finden, was schätzenswert ist!

Zu guter Letzt: Denken Sie immer daran, dass die Pubertät endlich ist. In ein paar Jahren werden Sie gemeinsam zurück blicken und über alles schmunzeln, was so passiert ist. Segeln Sie mit Gelassenheit und Humor durch die stürmischsten Winde und über die höchsten Wellen dieser Zeit, bis der Sturm sich gelegt hat. Ein altes Sprichwort sagt: In welche Richtung dein Schiff fährt, hängt nicht davon ab, aus welcher Richtung der Wind kommt, sondern davon, wie du dein Segel setzt!

Friederike von Bredow
Dipl. Pädagogin, systemische Paar- und Familientherapeutin
www.neuewege-beratung.com

 

Veröffentlich in Kinderkram – Das Kieler Magazin für Menschen mit Kindern · Nr. 147 · März 2013

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