Von der Schule in den Beruf
– (k)ein leichter Weg

Von der Schule in den Beruf - (k)ein leichter WegSchulsozialarbeit in Schleswig-Holstein und Schüler-Coaching am Beispiel des Jugendaufbauwerks Kiel

Marco ist 14 Jahre alt, als seine Lehrer Alarm schlagen, sie halten es zu diesem Zeitpunkt für mehr als unwahrscheinlich, dass Marco am Ende der 9. Klasse seinen Hauptschulabschluss erreichen wird. Marcos schulische Leistungen befinden sich am untersten Niveau, sein Arbeitsplatz in der Schule sieht aus wie nach einem Bombenanschlag, seine Zettel und Hefte fliegen durch die Gegend, und er kann sich kaum auf das Unterrichtsgeschehen konzentrieren, stört, fehlt oft. Was er werden möchte, weiß Marco nicht, was er gut kann, erst recht nicht. Er war doch immer das „Problemkind“. Marco ist ein Heimkind und sowohl seine persönliche als auch seine Lernbiographie ist so kurvenreich und problembeladen, dass manch einer ihn wohl eher in der Hartz-IV-Laufbahn als im Arbeitsleben sehen würde.

Wer kann Jugendlichen wie Marco helfen? Die Lehrkräfte erfüllen primär einen Bildungsauftrag und haben darüber hinaus unendlich viele weitere Aufgaben, sind im Kontakt mit Eltern, haben die Gruppendynamik der Klasse im Blick usw. Niemand wird bestreiten, dass die Kapazitäten unserer Lehrkräfte ausgefüllt sind. Wer kommt dann in Frage?

Lehrer brauchen Verstärkung

Eltern und Familien erfüllen in weit höherer Zahl als früher ihre Erziehungsaufgaben nur noch unzureichend, und das nicht nur in bildungsferneren Gesellschaftsschichten. Durch die Berufstätigkeiten vieler Mütter, die gewachsenen Mobilitätserwartungen an Arbeitnehmer und die hohe Arbeitsbelastung vereinzeln Kinder häufiger als früher und verbringen ihre Zeit mit Computer, Videospielen u. ä. Medien und Werbung spielen falsche Leitbilder vor, so dass viele andere „heimliche Erzieher“ sich in unvorteilhafter Weise auf Kinder und Jugendliche auswirken. Dadurch entstehen – über lange Zeit gesehen – Defizite im Sozialverhalten und im kognitiven Bereich, die sich benachteiligend auf die weitere Schullaufbahn und den Lebensweg auswirken. Dadurch steigt
wiederum die Belastungssituation bei den Lehrerinnen und Lehrern.*

So wurde und ist der Bildungspolitik in den letzten Jahren immer deutlicher: Lehrer brauchen Verstärkung, um die Zielerreichung des Bildungsauftrages zu sichern. Verstärkung kam und kommt vor allem durch zwei zentrale Hilfeinstanzen: Zum einen die Schulsozialarbeit, in die in den letzten Jahren verstärkt investiert wurde, und zum anderen das sogenannte „Schüler-Coaching“, das mittlerweile ein zentrales und bewährtes Werkzeug vieler schulergänzender Projekte ist.

Schulsozialarbeit hat die Aufgabe, in jeder Schule zu ermitteln, was gebraucht wird und mit welchen Menschen die notwendigen Schritte gegangen werden können. Die Aufgabenfelder der Schulsozialarbeit sind vielfältig und reichen von der Beratung und Einzelhilfe von SchülerInnen, sozialpädagogischer Gruppenarbeit und Projektanbahnung, Elternarbeit, Gewaltprävention, bis hin zur Organisation von offenen Freizeitangeboten, Verbesserung der Integration verhaltensauffälliger SchülerInnen und der Unterstützung von Eltern und Lehrkräften bei Erziehungsfragen bzw. Vermittlung weiterer kompetenter Hilfen. Ein umfangreiches Aufgabenfeld.

Mehr Geld für Schulsozialarbeit

Seit dem laufenden Schuljahr fördert das Ministeriums für Bildung des Landes Schleswig-Holstein verstärkt die Schulsozialarbeit. In diesem und im kommenden Jahr stehen insgesamt 2,5 Mio. Euro zur Verfügung. Vorrangig wird die Schulsozialarbeit an den Grundschulen gefördert. Das ist neu: Bislang wurde Schulsozialarbeit überwiegend in den weiterführenden Schulen eingesetzt. Prävention scheint hier das Gebot der Stunde.

Nicht mehr so neu dagegen ist, dass auch die Bundesagentur für Arbeit mit Hilfe europäischer Gelder über das Zukunftsprogramm Arbeit präventiv in SchülerInnen investiert, um Jugendarbeitslosigkeit zu verhindern und dem Fachkräftemangel des Arbeitsmarktes entgegen zu wirken.

Hier kommt das Jugendaufbauwerk Kiel ins Spiel, einer der größten und erfolgreichsten Bildungsträger im Bereich der Berufswegeplanung und Ausbildung von Jugendlichen mit einem Förderbedarf, gleich, welcher Art. Seit 2007 führt das Jugendaufbauwerk Kiel das „Handlungskonzept Schule und Arbeitswelt“ im Auftrag des Sozialministeriums und des Bildungsministeriums flächendeckend an Schulen in Kiel durch, die zu einem Förder- oder Hauptschulabschluss führen. Das Projekt gibt es in ganz Schleswig-Holstein und auch in anderen Bundesländern.

Schülercoaching ist bewährtes Konzept
vieler schulergänzender Projekte

Ziel ist es, die Institution Schule in Fragen des Übergangs der SchülerInnen von der Schule ins Berufsleben zu unterstützen. Damit soll zum einen der Anteil der Schulabgänger mit einem erfolgreichen Hauptschulabschluss erhöht werden und zum anderen die Anzahl der SchülerInnen gesteigert werden, die eine ungeförderte duale Ausbildung beginnen und abschließen. Viele SchülerInnen brauchen Unterstützung darin, den Hauptschulabschluss zu erreichen und anschließend einen Ausbildungsplatz zu finden, der geeignet ist.

Denn auch das ist heute nicht mehr selbstverständlich. Die von den Ausbildungsbetrieben vorausgesetzte Ausbildungs- und Betriebsreife haben heute die wenigsten SchülerInnen. Dieses Phänomen findet sich nicht nur bei sozial benachteiligten Jugendlichen, sondern zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. Auf diese neue Entwicklung müssen sich die Ausbildungsbetriebe erst einstellen. Das Gebot der Stunde ist auch hier: Prävention. Zur Reduktion der Ausbildungsabbrüche brauchen die SchülerInnen und Schüler eine intensive Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt, die mit viel Fingerspitzengefühl erfolgen muss.

Da die eigene oft negativ verlaufende Lernbiographie der Eltern eine enorm große Rolle spielt, müssen die Coaching-Fachkräfte ebenso wie die Schulsozialarbeiter die Zug-Pferd-Rolle übernehmen und den Rahmen zur Verfügung stellen, innerhalb dessen die SchülerInnen die notwendige
Ausbildungs- und Betriebsreife entwickeln. Die sogenannte Berufswahlreife entwickeln die SchülerInnen mit Hilfe von Kompetenzfeststellungsverfahren (Assessments), bei denen ein Stärkenprofil der SchülerInnen erstellt wird. Hier liegt der Fokus bewusst auf den Stärken und nicht auf den Schwächen, um das Selbstbewusstsein der Jugendlichen zu erhöhen. Intensive Berufsfelderprobungen in verschiedenen Fachbereichen bieten dann die Möglichkeit, seine Interessen und auch seine Eignung für einen Beruf zu entdecken und sich auszuprobieren.

Schüler müssen sich eigene Ziele setzen

Herzstück der Coaching-Arbeit ist allerdings die Zielarbeit. Die SchülerInnen müssen sich klar darüber werden, welche Ziele sie ganz persönlich verfolgen, während sie die Angebote des Jugendaufbauwerkes annehmen. Denn: „Das einzige Ziel, gegen das man sich nicht wehrt, ist sein eigenes!“ Das ist das Leitmotiv der Coaching-Arbeit, denn sonst gibt es unendliche Widerstände. Da Ziele auch unrealistisch sein können, ist eine Rückmeldung sehr wichtig, eine fortwährende Selbst- und Fremdwahrnehmung hilft dabei, sich selbst einschätzen zu lernen. Ziel der Coching-Fachkräfte ist es, Eigenverantwortlichkeit, Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit der SchülerInnen zu stärken, damit sie selbst das Heft in die Hand haben und eine hohe Selbstkompetenz entwickeln. Sie entscheiden nicht für die SchülerInnen, sondern unterstützen darin, eigene Entscheidungen zu treffen und Lernprozesse zu reflektieren. Letztlich geht es darum, die für jeden Schüler und jede Schülerin passende Anschlussperspektive zu finden, selbst wenn es nicht gleich eine Ausbildung ist, sondern zum Beispiel ein Ausbildungsvorbereitendes Jahr. Hilfreich bei der Arbeit der Coaching-Fachkräfte ist, dass das Jugendaufbauwerk Kiel seit Jahren intensive Kontakte zur Arbeitsagentur und zu Praktikums- und Ausbildungsbetrieben hat, so dass die SchülerInnen passgenau vermittelt und mit weiteren Hilfeinstanzen wie dem Amt für soziale Dienste, Beratungsstellen, Psychologen, Sprachschulen, Nachhilfe-Institutionen usw. vernetzt werden.

Zeitlich begrenzte Projekte,
zuwenig freie Plätze für die Schüler

Schwierigkeiten bestehen darin, Ausbildungsbetriebe zu finden, die sich auf die Besonderheiten der SchülerInnen einlassen. Hier dürfen sich gerne mehr Ausbildungsbetriebe aufgefordert fühlen, sich auch auf Jugendliche einzulassen und zu investieren, die auf den ersten Blick keine Überflieger sind. Weiteres Negativ-Kriterium: Die Coaching-Projekte sind zeitlich immer begrenzt, so dass die Coaching-Fachkräfte immer nur eng befristete Arbeitsverträge haben, die zum Projektende auslaufen. So ist die Perspektive immer offen, die Unsicherheit präsent. Darüber hinaus bekommt nicht jeder Schüler einen Platz im Schüler-Coaching, selbst wenn er es möchte. Die Platzanzahl ist begrenzt, der Bedarf deutlich höher.

Letztlich sind auch die knappen räumlichen Ressourcen vieler Schulen für die Schulsozialarbeiter und die Coaching-Fachkräfte belastend, viele intime Gespräche finden in Fluren, auf Pausenhöfen und Fensterbänken statt, was sicherlich nicht gerade zielführend ist. Bleibt zu hoffen, dass die Politik ihren Kurs beibehält und ausweitet. Förderlich wäre es sicherlich, die bewilligten Mittel der vielen unterschiedlichen Projekte, die an Schulen stattfinden, zu bündeln und zu zentralisieren, so dass beispielsweise pro Schule ein bis zwei feste Ansprechpartner für berufliche Fragen und ein Schulsozialarbeiter vor Ort sind – mit festen Räumen und verlässlichen Bezugspersonen. Das würde mehr Ruhe ins Geschehen bringen und eine Gleichberechtigung für die SchülerInnen bedeuten. Keiner würde mehr durchs Raster fallen, wer Unterstützung möchte, bekäme sie auch. Drücken wir die Daumen!

Die Politik stellt die Weichen

Marco hat es trotz seiner schlechten Prognose geschafft. Seine Coaching-Fachkraft vom Jugendaufbauwerk, seine Lehrer, seine Heimbetreuer, und ein familiärer Metallbau-Betrieb haben ein Netz um Marco gesponnen und ihn dahin gebracht, wo er heute steht: Kurz vor Abschluss seiner Ausbildung zum Metallbauer. Marco lernte damals zunächst sich selbst und seine Stärken kennen. Lernte, sich selbst einzuschätzen und zu reflektieren. Er begann, Interesse an verschiedenen Berufsfeldern zu entwickeln und diese kennen zu lernen. Er lernte, sich zu strukturieren und machte die wundervolle Erfahrung: Ich bin nicht allein. Jemand glaubt an mich. Jemand traut mir etwas zu. Jemand fragt mich nach meinen Zielen und meiner Meinung. Und er machte die Erfahrung: Es gibt ein Morgen für das es sich lohnt, Ziele zu formulieren, sich Gedanken zu machen und: Morgens aufzustehen! Marco lernte Selbstwirksamkeit kennen, etwas, von dem er vorher nicht wusste, was das ist. Eigene Erfolgserlebnisse schaffen. Das Zepter in die Hand nehmen.

Als er soweit war, sich auf den Arbeitsmarkt vorzuwagen, suchte seine Coching-Fachkraft einen kleinen familiären Betrieb, der über Marcos Geschichte und seine Besonderheiten aufgeklärt wurde. Dieser Betrieb lernte Marco während eines Praktikums kennen und schätzen. Marco machte die Erfahrung: Ich werde gebraucht. Etwas bis dahin völlig Unbekanntes. Marco erhielt einen Ausbildungsvertrag, die Agentur für Arbeit bewilligte Ausbildungsbegleitende Hilfen (Lernförderung zur Bewältigung der Berufsschule) und los ging es. Heute, knapp fünf Jahre später blickt Marco auf einen Wendepunkt in seinem Leben zurück und hat neulich seine Coaching-Fachkraft auf dem Weihnachtsmarkt nach einem Zufalls- Treffen mit den Worten verabschiedet: „Gut, dass ich Sie hatte!“ Bleibt zu hoffen, dass die Politik noch vielen weiteren Kindern und Jugendlichen die Hilfe an die Seite stellt, die Sie brauchen, um ein tragfähiges Mitglied der Gesellschaft zu werden und eine persönliche Erfolgsgeschichte zu schreiben.

Friederike von Bredow
Dipl. Pädagogin, systemische Paar- und Familientherapeutin
www.neuewege-beratung.com

* Aus dem Text der Homepage der Grundschule Reichertsberg, Trier

 

Veröffentlich in Kinderkram – Das Kieler Magazin für Menschen mit Kindern · Nr. 136 · Februar 2012

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