Eine Ver-Bindung fürs Leben!

Eine Ver-Bindung fürs Leben! Über die Bedeutung von sicherer Bindung
und ihre Entstehung im Kleinkindalter

Gib deinen Kindern Wurzeln, dann wachsen ihnen Flügel! Dieses Sprichwort kennt sicher jeder. Aber was ist gemeint? Was sind die Wurzeln und was die Flügel? Alle Kinder auf dieser Welt haben das gleiche Grundbedürfnis: Bindung.

John Bowlby, der Vater der Bindungsforschung definierte Bindung als ein unsichtbares, emotionales Band, das zwei Menschen über Raum und Zeit unsichtbar miteinander verbindet. Genau wie beispielsweise ein Affenbaby sich im Fell seiner Mutter festhält und diese es überall mit hin trägt, zeigt auch ein menschliches Baby nach der Geburt ganz klar, was es braucht: Mama! Sie ist in den meisten Fällen die Hauptbindungsperson. Natürlich können auch Väter, Adoptiveltern usw. die Hauptbindungspersonen sein.

Wird ein Baby oder ein Kind von seiner Bezugsperson getrennt, wenn auch nur kurz, zeigt es so genanntes Bindungsverhalten: Schreien, Weinen, Suchen, Hinterherkrabbeln, Anklammern usw. Dieses dem Menschen angeborene Verhalten hat die Funktion, die Bindung wieder herzustellen und die Bezugsperson zu sich zu rufen. In Tierversuchen mit Affenbabys hat sich gezeigt, dass selbst das Bedürfnis nach Nahrung dem Bindungsbedürfnis nachrangig ist. Trennt man ein Affenbaby von seiner Mutter, hungert es gleichzeitig aus und lässt ihm dann die Wahl: Mama oder Nahrung, entscheidet es sich immer und ohne Zögern für die Bindung zu seiner Mutter.

Warum ist eine sichere Bindung so wichtig
und was passiert, wenn Kinder diese nicht erfahren haben?

Die Entwicklung einer sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind ist die wichtigste Grundlage für eine gesunde körperliche, psychische und soziale Entwicklung eines Kindes. Dies ist mittlerweile mit unendlich vielen Studien belegt. Fehlt diese sichere Bindung, können vielfältigste Probleme entstehen, die bis ins hohe Erwachsenenalter andauern und sich unter anderem in problematischem Beziehungsverhalten eines Menschen widerspiegeln können. Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen behandeln PatientInnen, deren frühkindliche Beziehungserfahrungen unzureichend waren, denen Liebe, Wärme und Sicherheit gefehlt hat. Es stellt sich schnell heraus, dass diesen PatientInnen eine grundlegende Stabilität und Selbst-Sicherheit fehlt. Sie fallen immer wieder in alte Verletzungen, entwickeln Ängste, kindliche Verhaltensweisen und stecken in ihren Mustern fest. Sie bringen es manchmal so auf den Punkt: „Meine Eltern hätten da sein müssen, hätten zeigen sollen, dass ich ihnen etwas bedeute.“

Ein Kind möchte unbedingt, d.h. ohne Bedingung geliebt sein und muss dies auch spüren, um sich entwickeln zu können. Im 13. Jahrhundert machte König Friedrich II. ein grausames Experiment: Er kaufte Müttern 40 Säuglinge ab und ließ sie von Ammen ausschließlich mit Nahrung versorgen. Den Ammen war es verboten, die Babys zu berühren oder in den Arm zu nehmen. Man kann sich vorstellen, was aus diesen Säuglingen geworden ist: Sie sind alle gestorben.

Kinder sind angewiesen auf die liebevolle Zuwendung.

Sie ermöglicht die Entwicklung von sehr menschlichen Eigenschaften wie Liebesbereitschaft, Vertrauen, Hoffnung, Dankbarkeit, Empathie. Um dies entwickeln zu können brauchen Kinder feinfühlige Eltern. Und die Eltern wiederum benötigen Zeit, Ruhe und eigenes Wohlbefinden. Eltern, die selber an ihren Grenzen sind und ständig zu viele Stresshormone produzieren, sind neurologisch gesehen nicht in der Lage, empathisch und feinfühlig zu sein. Eigentlich wissen und zeigen Kinder sehr gut, was sie brauchen, wenn sie auf die Welt kommen und von wem sie dies bekommen möchten. Schreit ein Baby, sagt es damit: „Hilfe! Ich brauche dich! Ich kann mein Problem nicht alleine lösen! Wenn ich Angst habe, müde bin, mich krank fühle, dann muss ich weinen, schreien, dich suchen, hinter dir her krabbeln oder ich klammere mich an.“ Dieses dem Menschen angeborene Bindungsverhalten hat die Funktion, die Bezugsperson zu sich zu rufen, damit diese das Problem beseitigt. Das ist die wichtigste kindliche Strategie zum Überleben. Die Bezugsperson möchte das Schreien beenden und reagiert im besten Fall darauf mit Nahrungsgabe, Wärme oder Schutz.

Wie erzeugen Eltern Feinfühligkeit
als Grundlage sicherer Bindung?

Feinfühligkeit im Sinne der Bindungstheorie bedeutet 1. die Signale des Babys wahrzunehmen und genau zu beobachten, 2. die Signale richtig zu interpretieren und 3. auf die Signale angemessen und prompt zu reagieren. Um dies schaffen zu können, sind Mütter auf ihr Bauchgefühl angewiesen, um verstehen zu können, was ihr Baby oder Kleinkind wirklich braucht. Am Anfang ist das Schreien der Babys schwer zu deuten. Sie schreien undifferenziert, wenn sie Hunger haben, die Temperatur nicht stimmt oder sie Schmerzen empfinden. Eltern können dann ausprobieren und verschiedene Angebote machen. So lernen sie herauszufinden, was die Lösung sein könnte. Schon nach wenigen Wochen, etwa ab dem 3. Monat, kann man besser einschätzen, was das Baby braucht.

Wenn das Baby die Erfahrung macht, dass ihm geantwortet wird, baut die Bindungsperson damit die Beziehung/Bindung zum Kind auf. Schon allein die emotionale Zuwendung bedeutet Trost, auch wenn das Problem nicht gelöst wurde. Ein Baby, das sich sicher fühlt, kann sich seinem zweitwichtigsten Entwicklungsbedürfnis widmen, dem Explorationsdrang, dem Wunsch die Welt zu erkunden. Solange aber die Welt nicht sicher ist, wird die Neugier zurückgestellt, um die Grundsicherung zu gewährleisten. Wenn das Bindungsverhalten aktiviert ist, wenn das Kind also für seine Sicherheit sorgen muss, kann es nicht in Ruhe spielen und sich entwickeln.

Sichere Bindung entsteht über die Interaktionen
Berührung, Sprache und Mimik.

Bei der Berührung wird zwischen Bindungsperson und Baby am meisten Nähe aufgebaut. Dabei werden sogenannte Bindungshormone ausgeschüttet u.a. Oxytocin. Oxytocin wirkt beruhigend und ist in der Lage, Stresshormone zu absorbieren und abzubauen. Durch Berührung entsteht Vertrauen und Bindungsfähigkeit. Dies ist wiederum unabdingbar wichtig, um sich später auf andere Menschen einlassen zu können, sei es in der Partnerschaft, im Job, in Teams usw.

Was sind die Vorteile sicherer Bindung?

Eine sichere Bindung ist eine Basis, von der aus das Kind lernt, Neues, auch Angstmachendes zu entdecken, sich selbst zu beruhigen und seine Nervenzellen zu vernetzen. Gut verzweigte neuronalen Netze ermöglichen ein gesundes Selbstwertgefühl, Entdeckergeist und die Fähigkeit Beziehungen aufzunehmen. Kinder, die eine sichere Bindung erlebt haben, sind in der Lage, später auftretende Verluste und traumatische Erlebnisse viel besser verarbeiten zu können. Sicher gebundene Kinder können später frei wechseln zwischen Exploration und Bindung, sie haben also einen breiten Handlungsspielraum. Mit anderen Worten: Wem es als Kind ermöglicht war, abhängig zu sein, wird später innerlich umso unabhängiger. Unsicher gebundene Kinder dagegen zeigen eine hohe Verletzlichkeit auf allen psychosozialen Gebieten! Sie entwickeln überdurchschnittlich öfter Süchte, psychische Erkrankungen (Depressionen, Angststörungen usw.), psychosomatische Erkrankungen, problematisches Beziehungsverhalten usw.

Aus dem Wissen um die Relevanz und die Entstehung sicherer Bindung ergeben sich folgende Empfehlungen an alle Eltern:

  1. Bleiben Sie, wenn irgendwie möglich, das ganze erste Jahr bei Ihrem Baby und geben es nur für kurze Entlastungssequenzen aus den Händen. Das erste Jahr ist entscheidend!
  2. Achten Sie in den ersten drei Jahren auf konstante Betreuungspersonen. Lassen Sie Ihr Kind, wenn Sie es nicht selber betreuen, von so wenigen Betreuungspersonen wie möglich betreuen. Die Bindungsqualität ist wichtig, nicht die Quantität...
  3. Lassen Sie Ihr Baby niemals lange schreien, bis es sich von selbst beruhigt, aus Angst, sie könnten es zu sehr verwöhnen. Dieses angeblich wirksame Erziehungsmittel unserer Elterngeneration hat schwere traumatische Folgen und ruft neurologische Veränderungen im Gehirn eines Babys hervor, die nur schwer wieder korrigierbar sind. Versuchen Sie, herauszufinden, was es braucht, warum es schreit. Bieten Sie verschiedene Hilfen an. Wenn keine Abhilfe zu finden ist, bleiben Sie bei Ihrem Baby und berühren Sie es, tragen oder wiegen Sie es, reden Sie ruhig auf das Baby ein.
  4. Schaffen Sie sich in der Schwangerschaft und in den ersten Jahren Ihres Kindes Entlastung, um dem Leben mit Ihrem Baby eine gute Qualität geben zu können!
  5. Achten Sie auf lange Eingewöhnungszeiten in der Kita, besonders bei unter 3-Jährigen. Eine gute und ausreichend lange Eingewöhnung ist außerordentlich wichtig, um die sichere Bindung entstehen zu lassen. Ihr Kind braucht die Zeit, um sich an eine neue Bindungsperson in der Kita, in der Schule zu binden. Es wird Ihnen zeigen, wann es soweit ist, Sie gehen zu lassen. Investieren Sie lieber eine Woche mehr, um langfristig davon zu profitieren. Leider gewöhnen auch heute noch viele Kitas nach dem Prinzip ein: Kind abgeben und Mutter geht weg. Entwicklungspsychologisch ist das eine Katastrophe, die mitunter langwierige Folgen hat. Wer sich näher damit befassen möchte, kann sich im Internet über das „Berliner Eingewöhnungsmodell“ informieren, ein wissenschaftlich belegtes Eingewöhnungsmodell, bei dem Bindungsstörungen vermieden werden.
  6. Trösten Sie Ihr Kind immer, wenn es sich wehgetan oder erschrocken hat. Es ist ein Basiswissen für Eltern, dass Kinder sich nicht selbst beruhigen können, sondern diese feinfühlige Regulation von außen brauchen. Die alten Sprüche „ein Indianer kennt keinen Schmerz“ oder „sei tapfer“ blockieren die natürliche Reaktion des Babys, den Schreck „wegzuweinen“.
  7. Bleiben Sie bei Arztterminen, Eingriffen und Untersuchen, sofern irgendwie möglich immer bei Ihrem (kleinen) Kind. Lassen Sie es nicht allein! Sprechen Sie beruhigend und berühren Sie Ihr Kind immer wieder! Das durch die Berührung und die Stimme ausgeschüttete Oxytocin reduziert den Stress und minimiert die Folgen traumatischer Erlebnisse.
  8. Gönnen Sie sich und Ihrer kleinen Familie die Priorität wohltuender Beziehungen. Wer im ersten Jahr in die Bindung zu seinem Kind investiert, profitiert ein ganzes Eltern-Leben davon!

Mit einer sicheren Bindung werden die Eltern große Freude an ihrem Kind haben, weil sicher gebundene Kinder eine bessere Sprachentwicklung haben, flexibler und ausdauernder Aufgaben lösen, sich in die Gefühlswelt von anderen Kindern besser hineinversetzen können, mehr Freundschaften schließen und in ihren Beziehungen voraussichtlich glücklichere Menschen sein werden (K. H. Brisch). Also: Geben wir unseren Kindern Wurzeln, dann wachsen ihnen Flügel!

Friederike von Bredow und Anne Polchau
Einzel-, Paar- und Familientherapeutinnen

Literatur: „Safe“ von K. H. Brisch, Klett-Cotta 2010, 14,95 €

 

Veröffentlich in Kinderkram – Das Kieler Magazin für Menschen mit Kindern · Nr. 149 · Mai 2013

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