Lang lebe unsere Familie!

Lang lebe unsere FamilieLiebe Mama, lieber Papa, wir möchten gerne mal wieder etwas mit allen gemeinsam machen. Was haltet ihr davon, wenn wir am Samstag alle zusammen Mittag essen und danach Spielen. Wir machen ein großes Blech Pizza. Wir treffen uns alle um 12.00 Uhr zum gemeinsamen Vorbereiten. Eine Absage lassen wir nicht gelten. Wir freuen uns schon auf Samstag, Tom, Lisa und Ben.

Diesen Brief schreiben drei Kinder an ihre Eltern, die sich mehr Gemeinsamkeit innerhalb ihrer Familie wünschen. Drei Kinder, die die Initiative ergreifen, wenn ihre Eltern die Gemeinsamkeit aus den Augen verloren haben. Drei Kinder von vielen, die unter dem schnellen Lebenstempo und der Dezentralisierung heutiger Familien leiden. Die sich zurücksehnen in die Geborgenheit und haltgebende Sicherheit der klassischen Eltern-Kind-Konstellation, genannt: „Familie“.

Spricht man heute von „Familie“, so können damit die unterschiedlichsten Konstellationen gemeint sein, die sich mitunter von der klassischen oder ursprünglichen Vorstellung einer Familie unterscheiden. Gemeint sein kann eine Mehrgenerationenfamilie, eine Adoptivfamilie, die Ein-Eltern-Familie, eine Ehe ohne Trauschein, eine Stieffamilie, eine eheähnliche Beziehung, eine Großfamilie, die Kernfamilie, eine kinderlose Ehe, eine Kommune, eine Lebensabschnittspartnerschaft, eine Patchwork- Familie, eine Pflegefamilie oder eine SOS-Kinderdorf-Familie. Eine Familie kann heutzutage vielfältige Gesichter und Strukturen haben.

Die Vielfältigkeit der Beziehungsstrukturen lässt vermuten, dass die traditionelle Familie in ihrer Lebensform bedroht ist und sich in einer Krise befindet.

Soziologen kritisieren den Verfall der familiären Strukturen, die der Individualisierung, dem Karriere- und Existenz-Druck, der Schnelllebigkeit, dem Mobilitätsanspruch, der Pluralisierung der Lebensformen, der Ellenbogengesellschaft und der Leistungsorientierung zum Opfer gefallen sind. Wohlgemerkt nicht zwangsläufig, denn familiäre Strukturen können auch unter erschwerten Bedingungen in den eben genannten, vielfältigen Konstellationen entstehen und aufrecht erhalten werden. Doch ist eine gewisse Tendenz erkennbar, dass das Auseinanderbrechen des Familiengefüges sich zunehmend verbreitet und damit einen nicht unerheblichen Einfluss auf die kindliche Entwicklung hat.

Die „Multilokale Familie“1) sieht sich selten, ist in alle Winde zerstreut, gibt sich die Türklinke in die Hand, steht meist unter Zeitdruck, hat keine Zeit für Rituale und gemeinsame Aktivitäten, schiebt die Kinder von einer Betreuungsinstanz zur nächsten, nimmt kaum gemeinsame Mahlzeiten ein, hat keine Zeit für Austausch, Kontakt, Nähe, Aussprachen, konstruktive Konflikte und Beziehungsgestaltung. Anstelle verlässlicher Beziehungen, die sich in Gemeinschaft widerspiegeln, gibt es einen luftleeren Raum. Es fehlt ein Zentrum, ein Ort, ein Raum, eine Zeit, in dem jedes Familienmitglied auf ganz unterschiedliche Weise von der Gemeinschaft profitieren kann.

Von der Gemeinschaft profitieren kann bspw. auch bedeuten, dass ein Kind, dass in die Pubertät kommt, sich von der Gemeinschaft angrenzen kann, um ein eigenes Profil zu entwickeln und eine eigene Identität aufzubauen. Gab es vor der Pubertät keine Gemeinschaft, keine Verbindlichkeiten, sondern nur luftleeren Raum, ist das für dieses Entwicklungsalter typische Abstoßen und sich abgrenzen nur schwer möglich.

Viele Kinder gehen morgens ohne Frühstück zur Schule, kommen nach der Schule in eine leere Wohnung und verbringen den Nachmittag alleine. Natürlich lernen sie auf diese Weise, früh selbständig zu sein, eine wichtige Kompetenz, leider wird jedoch die fehlende Gemeinschaft und die dadurch fehlenden lebendig gestalteten Beziehungen innerhalb der Familie von Kindern durch übermäßigen Fernseh- und Computer-Konsum (Chat-Rooms, Online-Games usw.), durch kompensatorisches Essen, durch Cliquen und deren manchmal fragwürdiger Gesinnung usw. gefüllt und ersetzt. Nicht jede Herausforderung, denen Kinder, die lange und oft alleine sind, ausgesetzt werden, ist ihrer Entwicklungsphase entsprechend. Viele Kinder müssen nämlich Entscheidungen treffen, mit denen sie schlicht überfordert sind. Welches Computer-Spiel ist gut für mich, wann ist er Punkt, auszuschalten, wie gehe ich mit Konflikten mit Freunden um, wie verarbeite ich meine Misserfolge vom Schultag usw.

Die Auswirkungen dieser Tendenz für ein Kind können beispielsweise das Fehlen von Sicherheitsgefühlen und sicheren Bindungen sein, das Fehlen von Vorbildern zur Beziehungsgestaltung und zur Wertevermittlung, das Fehlen von innigen und gefühlsbetonten Beziehungen, eine Verunsicherung der eigenen Fähigkeit zur Beziehungs- und Familiengestaltung sowie eine Verunsicherung im Vertrauensaufbau bis hin zur Vereinsamung. Dies gilt insbesondere für kleine Kinder. Dadurch kann es zum Fehlen einer stabilen Identität als Grundlage zum Familien- und Beziehungsaufbau im Jugend- und Erwachsenenalter kommen.

Allerdings bilden sich soziale Kompetenzen und damit verbunden die Fähigkeit zur Beziehungsgestaltung bei einem Kind nicht durch das bloße Vorhandensein von familiären Strukturen, sondern vielmehr durch die Qualität der Beziehungen innerhalb des gesamten Betreuungsnetzwerkes. Solange ein Kind wenige, aber dafür konstante Betreuungs- und Bezugspersonen hat, zu denen es eine verlässliche Beziehung aufbauen konnte und die auf das Kind eingehen und reagieren, kann ein Kind das Urvertrauen aufbauen, das es später für seine eigene Beziehungsgestaltung braucht. So kann also auch eine klassische Familienstruktur, in der ein Kind aber wenig Nähe und Zuwendung erfährt, dieses weniger gut emotional versorgen, als ein Betreuungsnetzwerk aus Großeltern, Tagesmüttern und anderen Betreuern, die dafür aber konstant, einfühlsam und emotional nährend sind. Wichtig ist, dass die Betreuer nicht ständig wechseln, auf das Kind eingehen, reagieren und sich engagieren, eine intensive Beziehung zu dem Kind aufzubauen.

Eine wertvolle Bereicherung kann für Kinder die Betreuung durch ihre Großeltern sein, sofern dies möglich ist und von beiden Seiten gewünscht wird. Großeltern haben viel zu geben, sie können Geschichten erzählen und Kinderlieder singen, die heute fast vergessen sind, sie vermitteln Werte wie Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und Zusammenhalt ebenso wie Kenntnisse und Fertigkeiten (Basteln, Kochen, Backen, Lesen, Pilze suchen usw.). Und Großeltern haben Zeit, sich ganz auf ihr Enkelkind einzulassen.

Liebe Oma, gestern war es schön mit dir beim Entenfüttern. Ich habe Mama von der frechen Ente erzählt, die immer mehr Brot haben wollte. Freitag muss Mama wieder arbeiten, kommst du dann mit zum Laterne-Laufen in der Schule? Deine Mia.

Dies schreibt Mia ihrer Großmutter. Sie hat das Glück, dass ihre Großeltern in der gleichen Stadt wohnen und gerne viel Zeit mit ihrer Enkelin verbringt.
Mias Eltern sind beide berufstätig und haben wenig Zeit. Der Kontakt tut beiden gut, der Großmutter und Mia. Statt im Seniorenwohnheim die Zeit abzusitzen, kann Mias Oma etwas wertvolles mit ihrer Zeit tun, fühlt sich gebraucht und hat eine Aufgabe. Natürlich ist es wichtig, für diese Betreuungskonstellation im Vorfeld die gegenseitigen Erwartungen und Erziehungsvorstellungen abzustimmen.

Wie geht das nun, Gemeinschaft, Zusammenhalt und damit Sicherheit und Geborgenheit für Kinder herzustellen in einer Zeit, die schnelllebig und stressig ist?

Die Großeltern einzubinden ist eine gute Möglichkeit. Aber auch hier braucht es gemeinsame Zeit, z.B. in der Drei-Generationen-Konstellation, Kind, Eltern, Großeltern. Eine entscheidende Rolle sollten Rituale spielen. Wiederkehrende Abläufe, Aktivitäten, Spiele, und Kontaktformen. Rituale geben Halt und Sicherheit. Z.B. ein umfangreiches Einschlafritual, bei dem auch über den Tag gesprochen wird. Eine gemeinsame Aktivität, die rhythmisch jede Woche wiederkehrt, z.B. eine Familienkonferenz am Sonntag, das von Tom, Lisa und Ben gewünschte gemeinsame Kochen und Essen usw. Gemeinsame Mahlzeiten sind zentral für das Gemeinschaftsgefühl, denn „Liebe geht durch den Magen“! Auch hier kann ein Ritual eingeführt werden. Z.B. nach dem Essen noch eine Erzähl-Runde oder vor dem Essen ein Guten-Appetit-Spruch mit Händereichen.

Bei gemeinsamen Aktivitäten kommt es auf die Qualität an, nicht auf die Quantität. Hier helfen ein paar einfache Tricks: Sehen sie die gemeinsame Zeit als Qualitäts-Zeit und fragen Sie sich: Welche Botschaft möchte ich vermitteln? Was braucht mein Kind heute? Sicherheit und Geborgenheit oder Abenteuer und Action? Wie viel von beidem? Habe ich darauf geachtet, dass unsere gemeinsame Zeit störungsfrei ist, kann sich mein Kind sicher sein, dass ich nicht zu einem Termin wegmuss oder ständig am Handy bin? Welchen zeitlichen Rahmen stelle ich zur Verfügung? Welche Grenze ist mir wichtig? Habe ich das offen gelegt und dem Kind mitgeteilt? Gibt es Themen, die an- und ausgesprochen werden müssen? Weiß ich, was mein Kind fühlt und was in seinem Inneren vorgeht? Könnte es etwas auf dem Herzen haben? Gibt es ein Verhalten meines Kindes, das mich irritiert und dessen Ursache ich herausfinden möchte? Und zu guter Letzt, aber sehr wichtig: Was brauche ich als Elternteil, um meinem Kind das zu geben, was es braucht? Wie viel kann ich gerade geben? Habe ich selbst für jede Baustelle auch eine Tankstelle? Brauche ich mehr Zeit, mehr Ruhe, mehr Schlaf, mehr Unterstützung? Welche Entscheidungen muss ich treffen, welche Prioritäten setzen, damit ich genug Kraft habe, um zu geben?

Dies umzusetzen klingt auf den ersten Blick anstrengend. Doch ist es eine Investition, die sich lohnt. Kinder, die sicher in eine Gemeinschaft eingebunden sind, konstruktive Vorbilder zum Lernen und Anlehnen haben, sind zufriedener, kreativer, leistungsfähiger, gesünder und kontaktfreudiger. Nehmen Sie sich Zeit für die Auseinandersetzung mit diesen Fragen. Es lohnt sich.

Es ist zweitrangig, ob eine Familie aus der klassischen Konstellation besteht. Das Gefühl, Teil einer Familien zu sein, entsteht durch die Qualität der Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern, durch das Vertrauen, sich aufeinander verlassen zu können, geliebt, gesehen und wichtig genommen zu werden.

Friederike von Bredow
Dipl. Pädagogin, systemische Paar- und Familientherapeutin
www.neuewege-beratung.com

1) nach Bertram und Lauterbach 2000 (Die multilokale Mehrgenerationenfamilie - Intergenerationelle. Unterstützungsleistungen auch ohne gemeinsamen Haushalt)

 

Veröffentlich in Kinderkram – Das Kieler Magazin für Menschen mit Kindern · Nr. 115 · Dez. 2009/Jan. 2010

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