Hilfe Mama, hilfe Papa!

Wie Schreibabys Eltern an ihre Grenzen bringen und was helfen kann

Hilfe Mama, hilfe Papa!

Endlich ist es da, das langersehnte Baby, Glück und Freude sind groß, die gemeinsame Zeit will genossen werden. Aber in vielen Familien kommt es dann doch ganz anders, wenn das Baby viel schreit und weint und sich kaum beruhigen lässt. Es handelt sich um ein sogenanntes Schrei-Baby, auch "High-need-baby" genannt, wenn es mindestens drei Stunden täglich, an mindestens drei Tagen in der Woche, drei Wochen hintereinander schreit. So die Faustformel, die aber natürlich nur ein Richtwert ist.

 

Schreibabys lassen sich nur schwer beruhigen und bringen ihre Eltern an und über die eigenen Grenzen. Es entsteht schnell eine große Hilflosigkeit und Verzweiflung. Von vielen Müttern, die unsere Hilfe in Anspruch nehmen, hören wir Sätze wie: "Ich bin eine schlechte Mutter, wenn mein Baby so schreit!" oder "Egal was ich mache, ich schaffe es nicht mein Baby zu beruhigen!". Oft geht die Hilflosigkeit der Eltern so weit, dass sie Ängste entwickeln und ihrem eigenen Bauchgefühl nicht mehr trauen. Sie versuchen dann viele Maßnahmen anzuwenden, die das Baby beruhigen sollen, was aber oft nicht funktioniert und die Verzweiflung noch steigen lässt.

 

Viele Eltern glauben, dass organische Erkrankungen oder die Drei-Monats-Koliken, starke Blähungen, daran Schuld sind. Natürlich können auch Verdauungsprobleme die Ursache sein, doch das Schreien hat meistens andere Gründe. Ein Schreibaby hat sehr oft sogenannte Anpassungsund Regulationsstörungen, es kommt mit der äußeren neuen Welt außerhalb des Mutterleibes nicht zurecht und ist durch innere Reize, wie Hunger oder Müdigkeit, und äußere Reize, wie bestimmte Geräusche, schnell überfordert. Auch Blockaden, die während der Geburt entstanden sind können Schmerzen verursachen und ein Baby zum Schreien bringen.

 

Gleich welche Ursache dem Schreien zugrunde liegt, eines ist immer gleich: Eltern von Schreibabys sind enormem Stress ausgesetzt. Durch das Weinen entstehen bei den Eltern häufig Gefühle wie Enttäuschung, Verunsicherung, Scham, Hilflosigkeit, Überforderung, Aggressionen usw. Dazu kommt die körperliche Entkräftung durch Schlafmangel und ein durch das Schreien ausgelöstes hohes körperliches Stressniveau. Dadurch ist es den Eltern meist ab einem bestimmten Punkt kaum noch möglich, selbst zu entspannen. Da ein Baby das spürt und den Geruch von Angst und Stress im Schweiß der Eltern riechen kann, wird das Schreien dadurch wiederum verstärkt.

 

Ein wesentlicher Faktor sind die Reaktionen der Umwelt. Unverständnis und ungewollte Ratschläge verschlimmern den Druck und die Schuldgefühle, die sich viele Eltern machen. Sätze wie: "Du musst dich entspannen, dann entspannt sich auch dein Kind!" oder "Man soll die Kinder ja auch mal schreien lassen, das stärkt die Lungen!" sind nicht wirklich hilfreich für Eltern, die sich mitunter sogar schämen, weil sie glauben, irgendetwas falsch zu machen.

 

Wie Eltern und Baby aus der Schrei-Spirale wieder herauskommen, wollen wir im Folgenden aufzeigen. Zunächst ist das allerwichtigste die Bereitschaft, sich Hilfe zu holen, um nicht alleine damit fertig werden zu müssen. Wer sich eingestehen kann, dass er überfordert ist und Hilfe braucht, hat den wichtigsten Schritt bereits getan.

 

 

Suchen Sie Hilfe beim Kinderarzt und bei Beratungsstellen: Dort wird Ihnen und Ihrem Baby geholfen, ebenso werden beim Kinderarzt organische Ursachen ausgeschlossen.

 

Suchen Sie Hilfe in der Familie, auch wenn es schwer fällt, die eigene Überforderung öffentlich zu machen. Wer kann helfen? Wer kann einkaufen, ein Essen kochen, mit dem Baby spazieren fahren, damit die Mama sich ausruhen kann?

 

Benutzen Sie Ohrstöpsel (z.B. Colorplux): Klingt verrückt, hilft aber sehr. Die hohen Frequenzen des Schreiens lassen die Stresshormone in die Höhe schnellen. Die Natur hat es so eingerichtet, dass Eltern intuitiv auf das Schreien und den Hilferuf des Babys reagieren. Hält das Schreien aber an, gerät jeder an seine Grenzen. Die Ohrstöpsel verlängern die eigene Durchhaltefähigkeit und ermöglichen, länger empathisch und zugewandt dem Baby gegenüber zu sein.

 

Entschleunigen Sie Ihren Alltag und stellen Sie Reizarmut her: Termine und Besuche nur in Maßen wahrnehmen, dazwischen viele Ruhepausen einlegen. Rituale und immer gleiche Abläufe helfen dem Baby, Sicherheit und Vertrauen zurückzugewinnen.

 

Beruhigungsmaßnahmen ausprobieren, aber immer nur eine zurzeit: Dies setzt voraus, dass basale Bedürfnisse wie Nahrung und Nähe bereits angeboten wurden, aber nicht die Lösung fürs Problem sind. Dann darf probiert werden, was sonst noch helfen könnte. Hilft der Fön? Ein ruhiges Lied? Ein warmes Bad? Das Tragetuch, ein Pucktuch, Autofahren, ein Schnuller? Eine Hand auf der Stirn? Der Fliegergriff? Der Kinderwagen? Ein ruhiges Sch.. Sch…, dieses Geräusch erinnert die Babys an die pulsierende Nabelschnur im Mutterleib. Einfach ausprobieren und dran bleiben.

 

Durchbrechen Sie Kreisläufe: Oft ist das Schreien Folge eines Kreislaufes, weil das Baby zu müde ist zum Trinken und zu hungrig zum Schlafen. Hier hilft es, das Baby in einem schläfrigen Zustand zu füttern und wenn dies nicht geht durch einen Schnuller oder den Finger den Saugreflex auszulösen und dann aus dem Saugen heraus die Nahrung anzubieten.
Etwas klappt gut? Mehr davon! So lautet die goldene Regel. Wann und wo schreit das Baby am wenigsten? Was ist da anders? Was auch immer das ist, von diesen Situationen darf es mehr geben.

 

Reagieren Sie auf die Hilferufe des Babys: Lassen Sie Ihr Baby niemals schreien, ohne Hilfe angeboten zu haben. Dies hat massive seelische und organische Schädigungen zur Folge, wie wir mittlerweile aus der Neuroforschung wissen. Wenn das Baby keine Hilfe annimmt oder die richtige noch nicht gefunden ist, braucht es dennoch die Nähe der Bezugsperson. Es muss fühlen, dass es mit seiner Not nicht alleine ist. Sollte bei einem Elternteil die Not so groß werden, dass eine Handlung wie Schütteln oder Schlagen kurz bevor steht, ist es besser das Kind an einem sicheren Ort abzulegen und den Raum zu verlassen. Nach dem Durchatmen und Sich-selbst-Beruhigen kann dann wieder Kontakt zum Baby aufgenommen werden.

 

Suchen Sie eine Osteopathin auf, die speziell für Kinder und Säuglinge ausgebildet ist: Dort wird zunächst ein intensives Gespräch mit den Eltern geführt, da sie die eigentlichen Fachleute für ihr Baby sind. Dann baut die Osteopathin während der Behandlung eine feine Kommunikation zum Baby auf. Es werden die Bedürfnisse des Kindes übersetzt und ernst genommen. Die Gründe warum ein Kind dauerhaft schreit sind wie erwähnt vielschichtig, es bedarf also eines guten Zuhörers. Durch vertrauensbildende Maßnahmen findet dann der Behandlungsverlauf in verschiedenen Schritten statt. Hierbei hat es oberste Priorität, die belastendsten Störfaktoren für das Baby zuerst zu minimieren. Die Behandlung hat hierbei zum Einen beruhigende Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem, zum Anderen werden körperliche Blockaden und Traumata (vorgeburtlich oder geburtsbedingt) aufgelöst. Und das am besten in einem Takt, der mit dem Kind geht und es nicht durch zu schnelles Antreiben überfordert, da Schreibabys sehr stressanfällig sind.

 

 

Es gibt viele Möglichkeiten, die Eltern und ihr Baby in einer so schwierigen und anstrengenden ersten Lebensphase unterstützen können – der erste Schritt ist es, sich Hilfe zu holen und gemeinsam mit Experten in Ruhe herauszufinden, was das Baby in dieser Situation braucht.

 

Kirsten Jäger
Osteopathin für Säuglinge, Kinder und Erwachsene

Friederike von Bredow
Dipl. Pädagogin, syst. Einzel-, Paar- und Familientherapeutin
www.neuewege-beratung.com

 

Veröffentlich in Kinderkram – Das Kieler Magazin für Menschen mit Kindern · Nr. 210 · Juni 2019

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