Familienbande
Friederike von Bredow, Paar- und Familientherapeutin aus Kiel, im Gespräch mit Kinderkram über die Familie: Wie funktioniert sie? Was gibt sie ihren Mitgliedern? Gibt es die harmonische Familie? Braucht man eine Hierarchie?
Was ist Ihr absolutes Pro-Argument für eine Familie?
Eine Familie hat in der Natur die Funktion, das Überleben von jedem einzelnen Familienmitglied sicher zu stellen. Unsere Vorfahren hätten nicht überlebt, wenn sie sich nicht zu Familien und Gruppen zusammen geschlossen hätten. Nun sind wir Menschen in der heutigen Zeit zwar keinen Säbelzahntigern mehr ausgesetzt, aber Bedrohungen und Gefahren müssen auch wir trotzen. Wir müssen unser Überleben durch Arbeit sichern, müssen uns den Wirren der Bürokratie sowie manchen Niederlagen stellen, können Krankheiten erleiden usw. Wer eine Familie hat, die zu ihm hält, ist deutlich besser dran! Eine Familie bietet im Optimalfall Schutz, Geborgenheit, Sicherheit, Zusammenhalt, (Nest-)Wärme, Liebe, Unterstützung, Fürsprache, Rückendeckung, Hilfe in besonderen Lebenslagen, Pflege im Krankheitsfall. Es ist immer jemand da zum Reden, zum Streiten, zum Lachen, zum Weinen usw. Etliche Untersuchungen haben bestätigt, was wir eigentlich schon wissen: Wer Teil einer Familie ist, der lebt statistisch gesehen länger. Andersherum: Wer auf sich alleine gestellt ist, der ist anfälliger für körperliche und psychische Krankheiten.
Der Psychiater und Schriftsteller Paul Watzlawik sagt: „In der Wahl seiner Eltern kann man nicht vorsichtig genug sein.“ Gibt es die harmonische Familie? Oder ist das ein Mythos?
Das hängt davon ab, wie man harmonisch definiert. Bedeutet es die gänzliche Abwesenheit von offenen und verdeckten Konflikten, so ist die Frage klar mit Nein zu beantworten. Konflikte gehören zur Menschheit wie die Luft zum Atmen. Dadurch, dass Menschen niemals gleich sind, muss es zwangsläufig zu sogenannten Bedürfniskonflikten kommen. Er will Tatort sehen, sie den Liebesfilm. Er möchte Abenteuerurlaub, sie am Pool liegen. Die Kinder wollen Action, die Eltern Ruhe. Die Großeltern wollen brave Enkel, die Eltern wünschen sich selbstbewusste, autonome Kinder. Der Nachbar will feiern, man selbst schlafen. Alles Bedürfniskonflikte, die jeden Tag im Miteinander vorkommen. Zündstoff der Beziehungen. Und in einer Familie, in der es scheinbar keine Konflikte gibt und alles harmonisch wirkt, laufen die Konflikte dann eher nonverbal und unbewusst ab. Das ist fast noch schlimmer als offener Streit, denn in solchen Beziehungen fehlt oft gänzlich die Fähigkeit, über die eigenen Bedürfnisse überhaupt zu sprechen, Andersartigkeit zuzulassen, auch mal anderer Meinung zu sein.
In solchen Familien ist die Gefahr, an einer Sucht oder einer Depression zu erkranken, sehr hoch. Harmonie in der Familie definiert sich also nicht über die Abwesenheit von Konflikten, sondern über den Umgang mit ihnen. Wie werden Konflikte ausgetragen? Mit Verletzungen, Demütigungen, Gebrüll, unter der Gürtellinie, mit Anklage-Salven oder sogar mit Fäusten? Wie werden Konflikte gelöst? Durch patriarchalische Dominanz-Entscheidungen, Macht-Ohnmacht-Lösungen, Rechthaberei, die Macht des Stärkeren, durch Liebesentzug oder Trennungsdrohungen? In wessen Familie solche Mechanismen an der Tagesordnung sind, der denkt wohl das eine oder andere Mal, er könnte sicher gerne auf Familie und damit auf Geborgenheit und Sicherheit verzichten. Wer aber in der Streitkultur mehr Wert legt auf gute Lösungen, Kompromisse, Win-Win-Situationen, Respekt und Achtung, wer andere Meinungen stehen lassen und Andersartigkeit aushalten kann, der hat gute Chancen, seine eigene Familie trotz Konflikten als harmonisch und damit als Quelle der Wärme und als Ort für persönliches Wachstum zu erleben.
Behauptungskriege gegen Cousinen und Cousins, Wetteiferungsgefechte zwischen Tanten, Geheimnisverrat am Essenstisch – gibt es eine familiäre Kriegskultur?
Ja, die gibt es. In jeder Familie gibt es eine spezifische Streitkultur, die leider aber den wenigsten bewusst ist. In der Paartherapie sagen wir: Jedes Paar tanzt seinen eigenen Tanz. Die einen eher Tango, da geht es dann viel um Nähe und Distanz, die anderen eher einen schnellen Quickstep, diese Paare haben einen unglaublich hohen Leistungs- und Energielevel, drehen sich wie Hamster im Hamsterrad und haben keine Zeit für Beziehungen und Gefühle. Von diesen Kategorien gibt es unglaublich viele.
Virginia Satir, die Großmutter der Familientherapie hat die Kommunikationstypen in Familien in vier Grundkategorien unterteilt: Den Ankläger-Typ („Du bist schuld!“), den Beschwichtiger-Typ („Alles wird gut!“), den Irrationalen-Typ (Der Ausweicher, Verwirrer) und den Rationalisierer-Typ (Dieser Typ diskutiert auf hohem geistigen Niveau mit sehr langen Sätzen). Jeder Typ benutzt seine eigenen Mechanismen, sein eigenes Waffen-Arsenal, um im Beziehungs-Miteinander zu bestehen und nicht unterzugehen. Ob es nun Liebesentzug, Provokation, Verwirrspiele, Anklageschriften, Vergeistlichungen, Argumentations-Monologe, Gezicke, Hysterie, plötzlich eintretende körperliche Leiden oder das bekannte Ignorieren mit eiskalter Schulter ist: Alle diese Mechanismen machen bei der Betrachtung der Biographie desjenigen, der sie benutzt, Sinn! Denn in der Regel hat jeder genau das Waffen-Arsenal in Petto, dass er entweder aus seiner Kindheit abgeschaut hat oder erlernen musste, um sich zu behaupten und seelisch zu überleben. Oder auch aus vorangegangenen Beziehungen mitgebracht hat. Will man sein eigenes Waffen-Arsenal verändern, muss man sich bewusst machen, wann man wie und warum reagiert. Es gibt mittlerweile unzählige sehr effektive Möglichkeiten, um gewaltfreie Kommunikation zu erlernen. Auch Ignoranz, Abwertung, Anklagen und ähnliches sind Formen der Gewalt!
Kein Kind möchte so werden, wie die Eltern. Ist das überhaupt möglich?
Ja, natürlich. Gemeint ist die sogenannte Gegenidentifikation, bei der ein Kind, dass sich dieses Ziel steckt, versucht, genau anders zu werden wie seine Eltern. Leider schlägt das dann oft in ein anderes Extrem um. Wer einen arbeitslosen, depressiven Vater hatte und sich schwört, niemals so erbärmlich zu werden wie er, der wird dann schnell zum Workaholic, ist immer getrieben von der Angst, bei jedem Innehalten oder Pause machen doch in das gleiche Loch des Vaters zu fallen und geht dabei stets und ständig über seine Grenzen. Ein gesunder Weg, anders als die eigenen Eltern zu werden ist die Selbstreflektion. Wer sich bewusst macht, welche Verhaltensweisen, Werte und Glaubenshaltungen er von seinen Eltern mitbekommen und übernommen hat, der kann diese auch in Frage stellen. Wer bin ich ohne meine Eltern? Was sind meine eigenen Werte? Woran glaube ich und woran will ich glauben? Welche Verhaltensweisen und Werte sind wertvoll und können erhalten bleiben und welche bedürfen der Überarbeitung? Wer wirklich er selbst werden und sein möchte und merkt, dass er alleine dabei nicht weiter kommt, der kann sich einen Coach oder Berater suchen. Das ist keine Schande sondern hilft dabei, nicht das Leben und Unglück der eigenen Eltern nochmal zu inszenieren.
Kann man definieren, was die Grundlage einer intakten Familie ist? Gibt es so etwas wie eine Wurzel? Einen Schlüssel zum Glück?
Die Grundlage für langandauernde Beziehungen und damit für eine gute familiäre Bindung besteht aus Ehrlichkeit, Respekt, Wertschätzung, Mitgefühl, Kompromissen, Gemeinsamkeiten, offenen Gesprächen, Raum für Gefühle und Austausch sowie gemeinsame Zeit. Und wie alles im Leben ist auch das Familienglück eine Frage der Balance: Wenn eine Familie ein Zeitlang viel Stress hat, braucht sie danach eine Zeit der Ruhe und Entspannung. Wenn es wenig Zeit miteinander gab, braucht es dann wieder Gemeinsamkeit. Wenn eine Zeitlang der eine mehr Entscheidungen für sich verbuchen konnte, ist danach der andere dran. Nach einer anstrengenden Familienfeier sollte nicht gleich die nächste folgen, Einladungen dürfen auch mal ausgeschlagen werden, Feste auch mal zugunsten der eigenen Gesundheit und des Familienfriedens verschoben werden. Was auf jeden Fall auf die meisten Beziehungen angewendet werden kann ist die folgende Regel: Unterschiede ziehen sich nur am Anfang an, sind reizvoll und aufregend. Über die Jahre hinweg helfen aber Gemeinsamkeiten und ähnliche Werte, eine Beziehung aufrecht zu halten.
Wie wichtig ist eine klare Hierarchie innerhalb familiärer Strukturen?
Hierarchische Strukturen sind heutzutage nicht mehr gefragt. Keine Frau will sich heute noch sagen lassen, wo es lang geht, aber auch kein Mann will dominiert werden. Diese Hierarchie hat gut funktioniert, solange eine Familie lediglich eine ökologische und ökonomische Gemeinschaft war und solange man noch dachte, Frauen seien das schwache Geschlecht und würden ohne männliche Führung verirrt und verunsichert durch die Welt laufen.
Heute ist Teamgeist gefragt. Ein starkes Wir-Gefühl. Ein faires Aushandeln der eigenen Bedürfnisse und das gemeinsame Steuern des Familienschiffes. Heißt nicht, dass es in bestimmten Bereichen nicht auch Hierarchien geben kann. Wenn der Mann zum Beispiel ein begnadeter Gärtner ist, kann dies seine Domäne sein. Die Frau ist dagegen möglicherweise talentiert bei der Schnäppchenjagd oder beim Pflegen der sozialen Strukturen. Das würde man dann aber nicht als Hierarchie bezeichnen, sondern als klare Rollenverteilung. die einzige Hierarchie innerhalb einer Familie sollte es zwischen Eltern und Kindern geben. Wenn da die Rollen vertauscht sind, gibt es Chaos und Anarchie. Eltern müssen die Strukturen schaffen und die Richtung vorgeben, aber auch hier bitte nicht mit Patriarchie und Macht. Auch Kinder sind Teil des Teams, können sich am Wir-Gefühl beteiligen und brauchen den Zusammenhalt besonders stark.
Wie individuell kann man als Familie sein? Existieren nicht immer die gleichen Typen innerhalb einer Familie, nur in wechselnder Konstellation?
Wie schon gesagt, Menschen sind immer individuell. Wer sich ständig verbiegt, um anderen zu gefallen, wird auf Dauer unglücklich. Individualität muss also in Familien einen Raum haben, solange dieser nicht in Egoismus umschlägt. Das Interessante ist aber, dass in vielen Familienstudien immer ähnliche Konstellationen und Rollen gefunden wurden. So gibt es in vielen Familien und auch anderen sozialen Strukturen einen Buh-Mann, einen Rebellen, ein Everybodys-Darling, einen Macher, einen Ordentlichen und einen Unordentlichen, einen Vermittler und ein Sorgenkind. Allerdings könnte man diese Liste beliebig lang ergänzen, denn so unterschiedlich jeder Mensch ist, so unterschiedlich ist auch jede Familie.
Allen Menschen gemeinsam ist wohl das uns in die Wiege gelegte größte Bedürfnis der Menschheit, das Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung, Geborgenheit und Sicherheit. Und dieses Grundbedürfnis zu kombinieren mit unserem zweitgrößten Bedürfnis nach Autonomie und Selbstwirksamkeit, ist schon an sich ein lebenslanger Aushandlungsprozess. Diesen dann auch noch mit den Bedürfnissen unserer Mitmenschen zu kombinieren, wird wohl für alle Zeit weitere Anlässe für Konflikte schaffen. Aber nur Mut, aus Konflikten wächst auch etwas Neues! Nur wer den Mut hat, auszusprechen, was los ist, hat auch die Chance, etwas zu verändern. Metaphorisch ausgedrückt könnte man es so sagen: Es ist besser, im Regen zu tanzen, als zu warten, bis das Unwetter vorbei ist.
Friederike von Bredow
Dipl. Pädagogin, systemische Paar- und Familientherapeutin
www.neuewege-beratung.com
Veröffentlich in Kinderkram – Das Kieler Magazin für Menschen mit Kindern · Nr. 146 · Februar 2013