Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

Wie unsere Erziehung uns beeinflusst und wie wir uns davon lösen können

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

Der bekannte Psychologe Paul Watzlawick sagte einmal äußerst treffend: "Man kann in der Wahl seiner Eltern nicht vorsichtig genug sein." Sprichwörter wie "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm" und "Wie der Vater, so der Sohn" sind im Laufe der Geschichte entstanden, weil Menschen Ähnlichkeiten zwischen sich und den eigenen Eltern festgestellt haben – und vermutlich auch zwischen den Biographien der Eltern und denen der Kinder. Schließlich sind unsere Eltern unsere Vorbilder, ob nun gute oder weniger gute sei dahin gestellt. Und mittlerweile ist auch intensiv erforscht und bewiesen, wie wichtig und prägend die ersten Monate unseres Lebens sind.

Sichere und liebevolle Bindungen wirken sich positiv auf das weitere Leben aus

 

Erfährt ein Kind sichere und liebevolle Bindungspersonen, wirkt sich dies positiv auf sein weiteres Leben aus. Hier spricht die Forschung von einem sogenannten Resilienzfaktor – ein Schutzfaktor, der im späteren Leben hilft, Schicksalsschläge und Belastungen besser zu verarbeiten und körperlich und seelisch gesünder zu bleiben. Erlebt ein Kind dagegen keine sichere Bindung, keine Liebe oder sogar Traumata, so spricht man von sogenannten Vulnerabilitäts-, also Risikofaktoren. Diese erhöhen die Wahrscheinlichkeit, im späteren Leben psychisch zu erkranken, eine Sucht zu entwickeln, Probleme in Beziehungen zu haben usw. Jetzt könnte man meinen, dass das Schicksal eines Kindes damit bereits entschieden oder vorbestimmt ist. Gute Kindheit – gutes Leben, schlechte Kindheit – schlechtes Leben. Die gute Nachricht ist, dass wir uns zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens anders entwickeln können, als unser bisheriger Lebensweg uns das vorgegeben hat.

Wir wollen uns anschauen, wie das möglich ist: Bei jungen Erwachsenen werden zwei völlig unterschiedliche Entwicklungswege beobachtet. Ein Teil der Heranwachsenden identifiziert sich mit seinen Eltern und kopiert deren Wertesystem und Lebensweise. Ein anderer Teil entwickelt eine Gegenidentifikation. Hier geht es vor allem darum, es anders zu machen als die eigenen Eltern. Ein Beispiel: Wenn der Vater eines jungen Mannes lange arbeitslos und alkoholabhängig war, könnte dieser die Schule schmeißen, früh Alkohol und Drogen konsumieren und so in die Fußstapfen seines Vaters treten. Er könnte aber auch, angetrieben von dem Wunsch, es anders zu machen, fleißig in der Schule sein, seine Vorbilder außerhalb der Familie suchen, die Finger vom Alkohol lassen und hart arbeiten um "bloß nicht wie der eigene Vater zu sein".

Warum schaffen es manche, die Folgen einer schwierigen Kindheit zu überwinden, und andere nicht?

 

Wie entscheidet sich, welchen Weg wir einschlagen? Warum schaffen es die einen, aus ihrem Leben etwas Gutes zu machen, Stress und Schicksalsschläge zu überwinden, während andere an den Folgen ihrer Kindheit zugrunde gehen? Wer ein sogenanntes "Stehaufmännchen" oder "Stehauffrauchen" ist, der trotzt dem Schicksal und lässt sich nicht davon niederdrücken. So jemand hat also die innere Einstellung: "Trotzdem!" oder "Gerade deshalb!". Somit haben die innere Haltung und Einstellung einen entscheidenden Einfluss auf unseren Lebensweg. Nicht die Vermeidung von Stressoren ist entscheidend, sondern, die Bewertung der Belastung und der Umgang damit. Die eigene Einstellung zählt zu den inneren Resilienz- und Schutzfaktoren, aus denen unser sogenanntes "seelisches Immunsystem" gebildet wird.

Resiliente Menschen haben die Kontrolle über ihre Emotionen und lassen sich auch in stressigen Situationen nicht von ihnen übermannen. Dadurch erleben sie ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit. Sie haben eine positive Grundeinstellung und sind optimistisch, vertrauen auf ihre eigenen Fähigkeiten und führen nicht jeden Fehler und Misserfolg auf die eigene Persönlichkeit zurück. Resiliente Menschen akzeptieren die Gegebenheiten frühzeitig und erkennen dadurch schnell, was sie verändern können und was nicht. Sie konzentrieren sich nicht primär auf die Probleme, sondern auf deren Lösung. Sie fokussieren sich auf das Gute, auf das, was sie haben und lassen sich nicht durch Rückschritte entmutigen. Resiliente Menschen nehmen Hilfe von anderen an, sie pflegen ihre Beziehungen und Freundschaften. Sie fühlen sich nicht als Opfer der Umstände, sondern übernehmen aktiv die Verantwortung für sich und das eigene Verhalten. Sie streben nach Veränderung, suchen sich neue Vorbilder und sind in der Lage sich von toxischen Menschen und Umständen zu distanzieren. Klingt traumhaft, oder?

Bevor Sie jetzt der Mut verlässt und Sie denken: "Das schaffe ich ja nie, das alles so umzusetzen", kommt hier eine gute Nachricht: Wer der eigenen Kindheit die Macht über das Leben und das eigene Glück nehmen möchte, muss nicht alles perfekt machen, im Gegenteil. Veränderung beginnt mit der Entscheidung und dem Wunsch, etwas verändern zu wollen und die Fußstapfen der Eltern zu verlassen.

Man kann der eigenen Kindheit die Macht über das Leben nehmen

 

Wer sich auf den Weg machen möchte, kann und sollte bewusst erst einmal kleine Schritte machen, denn Veränderungen der neuronalen Verknüpfungen sind anstrengend für das Gehirn und kosten Kraft. Kraft, die uns im Alltag, wo wir ohnehin schon ständig einen Spagat machen, um unseren Rollen gerecht zu werden, oft fehlt. Es sind also eher kleinere Maßnahmen hilfreich, damit die Veränderungen langfristig auch tragfähig sind: Wir können ein Buch über Resilienz lesen, ein Hörbuch oder einen Podcast zum Thema hören. Wir können im Alltag üben, bewusst den Fokus auf das Positive zu lenken, zum Beispiel auf einen kleinen Erfolg, einen Sonnenstrahl der uns erwischt inmitten des vielen Regens, einem kleinen Kind zuwinken und sich über das Lächeln freuen usw. Wir können abends eine Art Glückstagebuch schreiben. Drei Dinge, die mich heute glücklich gemacht haben, oder die ich heute geschafft habe. Wir können auf den Umgang mit Miesepetern und Energievampieren verzichten und stattdessen mehr Kontakt mit optimistischen Menschen suchen. Wir können uns kleine Inseln im Alltag schaffen, in denen wir auftanken: unseren Lieblingssong zweimal hintereinander hören und dabei nur bewusst ein- und ausatmen. Eine Stunde in der Woche zum Sport oder zu einem Entspannungstraining gehen, oder zu Hause auf der Couch entspannen. Ich nenne diese Inseln "heilige Zeit", sie sind wichtige Tankstellen, die uns Kraft geben.

Positive Selbstannahme und Akzeptanz sind wichtige Resilienzfaktoren. Sie lassen sich in ganz kleinen Schritten üben. Statt sich selbst großartig, wunderschön und sexy finden zu müssen, reicht es, zu üben, sich so anzunehmen, wie wir sind. In unserer ganzen Unvollkommenheit. Wir können die Dinge, die wir nicht ändern können, akzeptieren und das Beste draus machen. Nicht alle Kriege müssen gekämpft werden.

Es gibt auch professionelle Hilfe für die, die bereit sind, Hilfe anzunehmen. Wer gerne schneller zu Veränderungen kommen möchte oder wer bereits einen sehr hohen Leidensdruck hat, der sollte diese Hilfe als gute Investition in eine positivere Zukunft sehen und annehmen. Coaches, Berater und Therapeuten sind dann die richtigen Ansprechpartner.

Übrigens stärken auch ganz einfache Maßnahmen wie frische Luft, Bewegung, ausreichende Trinkmenge, vitaminreiche Ernährung und soziale Interaktion unsere körperliche und seelische Widerstandskraft. Klingt fast zu simpel, dies sind aber wichtige Voraussetzungen für Veränderungen an Mustern im Nervensystem.

Ein guter Anfang des Veränderungsprozesses ist es, sich bewusst zu machen, was wir schon geschafft haben in unserem Leben, zum Beispiel bis heute zu überleben und nicht aufzugeben, was bestimmt nicht immer leicht war. Wir können stolz auf uns sein für den Mut, etwas verändern zu wollen und diese Veränderung Schritt für Schritt angehen.

Wir haben tatsächlich keinen Einfluss darauf, in welche Familie und welche Umstände wir geboren werden und wie die Würfel für uns am Anfang unseres Lebens fallen. Wir können aber zu jeder Zeit unseres Lebens eine Wendung herbeiführen und einen anderen als den für uns vorgesehenen Weg einschreiten. Das sind gute Nachrichten, oder?

 

Friederike von Bredow
Dipl. Pädagogin, systemische Paar- und Familientherapeutin
www.neuewege-beratung.com

 

Veröffentlich in Kinderkram – Das Kieler Magazin für Menschen mit Kindern · Nr. 220 · Juni 2020

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