Chantal bekommt eine Chance!

Chantal erhält eine ChanceChantal* ist vierzehn Jahre alt und geht in die 8. Klasse der Hauptschule in Mettenhof. Ihre Eltern sind arbeitslos, genau wie deren Eltern und deren Eltern.
Chantal hasst die Schule, sie hasst die Lehrer. Findet das alles lästig; die schöne Zeit, die sie in der Schule absitzen muss, könnte sie viel besser mit chatten, rumhängen und telefonieren verbringen. Chantal kann nicht im Zahlenraum bis hundert rechnen. Sie liest wie eine Erstklässlerin. Ihre Handschrift ist kaum zu entziffern. „Steke“ schreibt sie statt „Stärke“ in ihr Heft. Irgendwann hat sie abgeschaltet, nichts mehr dazu gelernt.

Wovon sie träumt, frage ich sie. Was sie in ihrem Leben einmal erreichen will. Sie kann es mir nicht sagen, zuckt mit den Schultern. Was sie glaube, wo das Geld herkomme, von dem die Familie lebt, frage ich sie. Vom Staat, sagt sie. Und woher hat der Staat das Geld, frage ich. Sie zuckt die Schultern. Das ist einfach da, sagt sie.

Chantal ist nur eine Jugendliche von vielen, deren Armut sich auf alle weiteren Bereiche ihres Lebens ausgewirkt hat: Bildung, Ernährung, soziale Verantwortung und vor allem auf die eigene Identität. Niemand hat ihr beigebracht, wie sie mit Frustration und Konflikten umgehen kann, wenn es zum Beispiel schulisch nicht gut läuft. Niemand hat ihr von ihrer Verantwortung in der Gesellschaft erzählt. Niemand sieht ihre Stärken, aber ihre Schwächen werden ihr von den Eltern, von den anderen Jugendlichen und nicht zuletzt von den Lehrern immer wieder vor Augen geführt, wenn sie mal wieder eine „sechs“ geschrieben hat. Wer hätte sie fördern sollen? Die Eltern? Die sind mit sich selbst beschäftigt und vererben Chantal ein Selbstverständnis von „Versorgt werden“, von „nichts Tun“, für den eigenen Lebensunterhalt, von Passivität.

„Intergenerationelle Vererbung“ nennt man diese Übertragung von den Eltern auf die Kinder in der Fachsprache. Die eigene Armut und Passivität führt zu einem Gefühl von Minderwertigkeit, von Scham, man fühlt sich als Versager. Um dieses Gefühl zu reduzieren oder nicht zu spüren, gibt es verschiedene Strategien: man entwickelt z.B. eine Opfer-Identität: die anderen sind schuld an meiner Situation, das Amt, der Staat, der Ex-Mann, die Kinder usw. Oder die Rückenschmerzen. Damit kann man nicht arbeiten. Die sind schuld.

Oder man entwickelt Strategien, die eigenen Gefühle von Versagen, Scham und Unzufriedenheit hinter einer glänzenden Fassade zu verbergen. Extreme Profilsucht kann entstehen. Es werden Markenklamotten gekauft, Autos, mit Strasssteinen besetzte Handys, Tattoos, Piercings, Wohnungseinrichtungen, alles mit Geld, das nicht existiert: hier beginnt oft die Schuldenspirale.
Und die Kinder lernen: Du bist, was Du hast. Also profilier Dich. Und wenn Du nichts hast, tu so, als ob.

So lerne ich Chantal kennen. Die ganz große Klappe, beleidigend, frech, dreifach gepierct, vierfach gefärbt, so cool, dass mir kalt ums Herz wird. Eine glänzende, funkelnde Fassade und dahinter?

So viel Unsicherheit. So wenig Selbstvertrauen. So viel Schulden. So wenig Zukunft, Hoffnung und Zielstrebigkeit. Und vor allem: so wenig Glaube an sich selbst. Was kann Ihre Tochter gut? frage ich einmal Chantals Mutter beim Elterngespräch. „Frech sein, Blödsinn sabbeln und chatten kann se, sonst nix“.
Wie soll Chantal da wissen, dass sie in dieser Gesellschaft einen Beitrag leisten kann? Was soll sie später ihren eigenen Kindern beibringen?

Seit zwei Monaten arbeite ich nun mit ihr. Berufseinstiegsbegleitung nennt sich das Projekt. Schüler-Coaching. Ich begleite die Jugendlichen beim Übergang von der Schule in den Beruf. Die Bundesagentur für Arbeit investiert nun in die Schüler, nicht erst in die arbeitslosen Jugendlichen und Schulabbrecher. Endlich!
Der Präventionsgedanke steht über diesem Projekt.

Chantal bekommt eine Chance. Sie will sie nutzen, sagt sie.

Und steht immer zehn Minuten vor den anderen vor meiner Tür und wartet, dass sie mit mir sprechen kann. Und ich sehe es in ihren Augen glitzern, wenn ich sie lobe, für Kleinigkeiten. Für ihr pünktliches Erscheinen, für ihren Mut, sich ihren Problemen zu stellen und offen mit mir zu sprechen, dafür, dass sie sich im Deutsch-Unterricht einmal gemeldet hat, für ihre Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, für ihren kräftigen Händedruck und für das Interesse, das sie im Praktikum gezeigt hat. Ich finde immer irgendwas Positives. Und sie saugt es auf wie sie sonst ihre Cola runterkippt.

Und ich sage Chantal und den anderen immer wieder: Du wirst gebraucht! Wir können nicht auf dich verzichten. Wir brauchen Dich!

Was können Eltern tun, die wenig Mittel zur Verfügung haben, um ihre Kinder zu fördern?

  • machen Sie sich bewusst, welche Glaubenshaltungen, Einstellungen und Werte Sie Ihrem Kind vermitteln und überprüfen Sie, was davon hilfreich ist, und was Ihr Kind eher blockiert und behindert.
  • Beobachten Sie sich selbst: Wie oft lobe ich mein Kind, zeige ihm meine Wertschätzung. Und wie oft kritisiere ich es, mache abfällige Bemerkungen? Hält sich beides die Waage?
    Oder betrachten Sie Ihr Kind eher defizitorientiert, schauen Sie mehr auf die Schwächen und Misserfolge?
    Wenn ja, dann schaffen Sie bewusst Erfolgserlebnisse. Geben Sie Ihrem Kind Aufgaben, von denen Sie wissen, dass es sie schaffen kann. Und loben Sie es dafür. Sagen Sie ihm, was Sie an ihm mögen, schätzen.
    Auch Willensstärke und Kontaktfreudigkeit sind Stärken!
  • Versuchen Sie, Ihrem Kind ein Vorbild zu sein. Wenn Sie nicht arbeiten können, können Sie dennoch einen Beitrag leisten für das große Ganze. Sie können ehrenamtlich aktiv werden, oder sich um die Kinder der Nachbarin kümmern, Sie können Stadtteilprojekte anbieten wie Hausaufgabenbetreuung oder Einkaufshilfe für Senioren. Ihr Kind lernt, dass jeder etwas beitragen kann, dass jeder etwas zu geben hat und dass Armut nicht bedeutet, ausgeschlossen und nutzlos zu sein.
  • Fördern Sie Ihr Kind, indem Sie mit ihm Ziele besprechen und erarbeiten, wie man diese erreicht. Setzen Sie erreichbare Ziele, erarbeiten Sie die notwendigen Schritte dahin, halten Sie diese schriftlich fest und loben Sie Ihr Kind für jeden Schritt. Ziele können z.B. sein, am Monatsende genug Geld für einen Ausflug gespart zu haben. Oder gemeinsam einen Brief an Oma zu schreiben. Oder jede Woche eine gute Tat zu vollbringen. Oder die „vier“ in Deutsch in eine „drei“ zu verwandeln. Fragen Sie dabei immer wieder: Was brauchst Du dabei für Unterstützung? Was könnte der erste kleine Schritt in die richtige Richtung sein? Was könntest Du tun, um Dein Ziel zu erreichen? Loben Sie für jede Form von Mitarbeit und Idee, auch wenn sie nicht Ihren Vorstellungen entspricht.
  • Leihen Sie sich Bücher und Hörbücher aus der Bücherei aus und fördern Sie Ihr Kind je nach Alter spielerisch.
    Auch Jugendliche können noch ans Lesen gebracht werden. Lassen Sie ihr Kind z.B. einen Krimi-Roman aussuchen und lesen Sie sich immer abwechselnd Kapitel für Kapitel vor.
  • Nehmen Sie Möbelbörsen und Secondhand-Läden in Anspruch und schämen Sie sich nicht dafür!
    Mit dem eingesparten Geld können Sie mit Ihren Kindern z.B. Ausflüge machen, Nachhilfe bezahlen und in die Zukunft Ihrer Kinder investieren!
  • Sagen Sie Ihren Kindern immer wieder:
    Du wirst gebraucht. Du kannst etwas beitragen.
    Du bist wichtig für diese Gesellschaft!

* Name geändert

Friederike von Bredow
Dipl. Pädagogin, systemische Paar- und Familientherapeutin
www.neuewege-beratung.com

 

Veröffentlich in Kinderkram – Das Kieler Magazin für Menschen mit Kindern · Nr. 110 · Juni 2009

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